Ambidextrie

Öffentliche Institutionen stehen angesichts multipler Krisen und gesellschaftlicher Erwartungen unter erheblichem Anpassungsdruck. Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie entscheidend es ist, flexibel auf Krisen zu reagieren, ohne die grundlegenden Funktionen des Staates zu gefährden. Laut der dbb Bürgerbefragung (2025) trauen nur noch rund 23 % der Bürger:innen dem Staat zu, seine Herausforderungen wirksam zu bewältigen – ein Hinweis auf den wachsenden Vertrauensverlust in die staatliche Handlungsfähigkeit. Angesichts aktueller Herausforderungen und wachsender Erwartungen muss die öffentliche Verwaltung zeigen, dass sie sowohl Stabilität gewährleisten als auch auf innovative Weise Lösungen entwickeln kann. Die Verwaltung steht daher vor einer doppelten Aufgabe: Sie muss einerseits Effizienz, Stabilität und Rechtmäßigkeit sicherstellen und andererseits flexibel auf neuartige Herausforderungen reagieren. Für diese scheinbar widersprüchlichen Anforderungen bietet organisationale Ambidextrie – die Fähigkeit, Gegensätze wie Stabilität und Innovation produktiv zu vereinen – Ansätze zur Bewältigung.

Wie kann die Verwaltung Stabilität sichern und gleichzeitig Innovation ermöglichen?

Ambidextrie beschreibt die Kompetenz einer Organisation, zwei widersprüchliche Handlungslogiken gleichzeitig zu verfolgen: Exploitation, die Optimierung und Stabilisierung bestehender Prozesse, und Exploration, die Suche nach Innovationen und neuen Handlungsmöglichkeiten. Die Verankerung von Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung ist besonders herausfordernd, da diese traditionell durch Hierarchien, Regelgebundenheit und Effizienz geprägt und damit eher einseitig auf die Stabilisierung von Bestehendem ausgerichtet ist (Holokratie). Welche strukturellen Anpassungen, kulturellen Transformationen und Führungsmodelle sind notwendig, um Ambidextrie als Instrument nachhaltiger Verwaltungsmodernisierung zu etablieren? Und wie kann die Verwaltung dabei ihre Rolle als Garant für Gemeinwohl weiter stärken?

Die Ansätze der Ambidextrie bieten unterschiedliche Möglichkeiten, die Balance zwischen Stabilität und Innovation herzustellen. Die sequenzielle Ambidextrie beschreibt die zeitliche Trennung von Exploitation und Exploration. Eine Organisation konzentriert sich für eine bestimmte Zeit ausschließlich auf einen dieser Modi und wechselt anschließend zum anderen. Ein Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass sie eine volle Konzentration auf einen Modus ermöglicht, ohne dass Ressourcen und Aufmerksamkeit zwischen Stabilität und Innovation aufgeteilt werden müssen. Allerdings wird die sequenzielle Ambidextrie im öffentlichen Sektor und der Sozialwirtschaft als wenig praktikabel angesehen. Der Hauptgrund hierfür ist, dass Organisationen in diesen Bereichen die Versorgung ihrer Anspruchsgruppen jederzeit gewährleisten müssen. Kernaufgaben der Daseinsvorsorge können nicht einfach pausiert werden oder vollständig in separate Phasen ausgelagert werden. Zwar kann es zeitlich begrenzte Phasen der Innovation geben, etwa in Projekten oder Pilotvorhaben, doch ein striktes sequenzielles Umschalten zwischen Stabilisierung und Exploration ist in der Verwaltung kaum realisierbar Hinzu kommt, dass die sequenzielle Ambidextrie in Zeiten schnelllebigen Wandels oft nicht effektiv genug ist, da Organisationen in vielen Fällen gleichzeitig effizient und innovativ handeln müssen. Sie wird daher eher als Ansatz betrachtet, der vor allem in flexibleren organisationalen Kontexten wie Start-ups Anwendung findet. Außerdem existieren bislang keine empirischen Belege dafür, dass sequenzielle Ambidextrie tatsächlich zu einer Leistungssteigerung führt.

Die strukturelle Ambidextrie trennt exploitative und explorative Aufgaben organisatorisch, indem parallele Einheiten geschaffen werden. Strukturelle Ambidextrie ermöglicht die gleichzeitige Ausführung widersprüchlicher Aktivitäten und fördert eine spezifische Kultur sowie Mitarbeitendenprofile für Exploration. In der Verwaltung wird dieser Ansatz häufig verfolgt – etwa durch separate Innovationsabteilungen, Reallabore oder Gov-Labs. Diese explorativen Einheiten können neue Ansätze entwickeln, während die verbleibenden Einheiten weiterhin für Stabilität sorgen. Entscheidend ist, dass Ergebnisse solcher Einheiten durch klare Schnittstellen in die Linienorganisation eingebettet werden. Es besteht sonst die Gefahr der Isolation von Innovationseinheiten vom Kerngeschäft (»Innovationsinseln«). Zugleich erfordert die strukturelle Trennung einen organisierten und abgesicherten Wissenstransfer zwischen den Einheiten. Andernfalls kann es zu Akzeptanzproblemen im Sinne des »Not-Invented-Here«-Syndroms kommen, bei dem Ergebnisse von der Empfängergruppe abgelehnt werden. Neben diesen Herausforderungen geht die strukturelle Ambidextrie mit einem hohen finanziellen und personellen Ressourcenbedarf einher, wobei der Return on Investment häufig unsicher bleibt. Zudem können Fragmentierung und interne Ressourcenkonkurrenz entstehen, was bei unzureichender politischer Unterstützung die Wirksamkeit deutlich einschränken kann. Trotz dieser Nachteile gilt die strukturelle Ambidextrie im Unternehmenskontext als wirksamer Ansatz, da sie empirisch belegte positive Effekte auf die Performance aufweist, klare Verantwortlichkeiten schafft und es Organisationen ermöglicht, Stabilität und Innovation parallel zu verfolgen. Für die öffentliche Verwaltung sind die Effekte von struktureller Ambidextrie hingegen noch deutlich weniger gut empirisch erforscht.

Die kontextuelle Ambidextrie integriert Exploitation und Exploration in die tägliche Arbeit der Mitarbeitenden. Dabei wechseln dieselben Mitarbeitenden oder Teams situativ zwischen stabilisierenden und innovativen Aktivitäten, je nach Kontext oder Aufgabe. Der Ansatz setzt einen kulturellen Wandel voraus, bei dem die Fähigkeit der Individuen im Vordergrund steht, beidhändig zu agieren (Selbstorganisation). Führungskräfte übernehmen dabei die Aufgabe, die richtigen Zeitpunkte oder Einheiten für die jeweiligen Modi zu identifizieren und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Für Verwaltungen könnte dies durch interdisziplinäre Teams oder flexible Arbeitsmodelle gefördert werden. Ein Vorteil der kontextuellen Ambidextrie liegt im geringeren Ressourcenbedarf, da keine parallelen Strukturen geschaffen werden müssen. Zudem reduziert sie das Risiko einer Isolation zwischen Exploitation und Exploration, fördert Kreativität und Engagement durch Freiräume für Mitarbeitende und trägt dazu bei, implizites Wissen besser zu bewahren. Demgegenüber besteht die Gefahr einer Überforderung, wenn widersprüchliche Anforderungen gleichzeitig erfüllt werden müssen. Hinzu kommen Fragen der Skalierbarkeit, da sich radikale Innovationen auf individueller Ebene nur schwer realisieren lassen. Empirische Befunde zeigen zudem, dass es für Einzelpersonen schwierig sein kann, beide Modi gleichzeitig zu beherrschen und dort keine signifikanten positiven Leistungseffekte festzustellen sind. Erschwert werden kann dieser Ansatz zusätzlich, wenn klare Abgrenzungen und Priorisierungen fehlen, was zu kognitiver Überlastung führen kann.

AnsatzVorteileNachteileVoraussetzungen
Sequenzielle Ambidextrie
  • Volle Konzentration auf einen Modus möglich
  • Einfacher zu implementieren
  • Eher geeignet für kleine, flexible Unternehmen
  • Wenig praktikabel im öffentlichen Sektor und in der Sozialwirtschaft
  • Kernaufgaben (z. B. der Daseinsvorsorge) nicht pausierbar
  • Ungeeignet bei schnelllebigem Wandel, da oft simultanes Handeln notwendig
  • Keine empirischen Belege für Leistungssteigerung
  • Stabile Rahmenbedingungen
  • Relativ geringe Dynamik des Umfelds
  • Zeitliche Trennung von Aufgaben möglich
Strukturelle Ambidextrie
  • Gleichzeitige Ausführung widersprüchlicher Aktivitäten
  • Fördert spezifische Kulturen und Mitarbeitendenprofile
  • Empirisch belegte Performance-Effekte
  • Klare Verantwortlichkeiten und Fokus
  • Hoher Ressourcenbedarf, unsicherer ROI
  • Gefahr von »Innovationsinseln«
  • Probleme beim Wissenstransfer (»Not-Invented-Here«-Syndrom)
  • Weniger flexibel (Mitarbeitendenwechsel schwierig)
  • Risiko von Fragmentierung und Ressourcenkonkurrenz
  • Klare Schnittstellen zwischen Einheiten
  • Organisierter Wissenstransfer
  • Finanzielle/politische Unterstützung
  • Starke Führung und Koordination
Kontextuelle Ambidextrie
  • Geringerer Ressourcenbedarf, keine Doppelstrukturen
  • Reduziert Risiko der Isolation
  • Fördert Kreativität, Engagement und Selbstorganisation
  • Bewahrt implizites Wissen besser
  • Risiko der Überforderung durch widersprüchliche Anforderungen
  • Skalierbarkeit radikaler Innovationen begrenzt
  • Schwierige Beherrschung beider Modi durch Individuen (teilweise negative Korrelationen)
  • Gefahr kognitiver Überlastung, fehlende Priorisierung
  • Kultureller Wandel hin zu Selbstorganisation
  • Flexible Arbeitsmodelle und interdisziplinäre Teams
  • Führungskräfte müssen Wechsel zwischen Modi gezielt steuern

Begriffliche Verortung

Ambidextrie in der Transformation zur Nachhaltigkeitsverwaltung

Ein zentrales Anwendungsfeld von Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung ist ihre Transformation hin zu einer nachhaltigkeitsorientierten Organisation , die Stabilität und Effizienz mit Innovationskraft und Flexibilität verbindet. Am Beispiel der Energiewende und des kommunalen Klimaschutzes wird die Praxisrelevanz besonders deutlich: Kommunen sind dafür verantwortlich, lokale Klimaschutz- und Energiekonzepte zu entwickeln, erneuerbare Energien auszubauen, die Energieeffizienz kommunaler Gebäude zu steigern, Bürger:innen zu beteiligen und Kooperationen mit lokalen Akteuren zu organisieren – und dies alles unter Wahrung rechtlicher und organisatorischer Stabilität. Die drei Ambidextrie-Ansätze verdeutlichen unterschiedliche Möglichkeiten, diese Anforderungen zu bewältigen. Eine sequenzielle Herangehensweise könnte darin bestehen, dass eine Stadtverwaltung zeitlich befristet Prioritäten verschiebt, um sich etwa stärker auf die Entwicklung einer Klimastrategie zu konzentrieren. Wie bereits gezeigt, stößt ein solches Modell im öffentlichen Sektor jedoch rasch an Grenzen, da zentrale Aufgaben – etwa Energieversorgung, Fördermittelverwaltung oder Berichtspflichten – kontinuierlich aufrechterhalten werden müssen. Strukturelle Ambidextrie würde dagegen bedeuten, eine separate Einheit – beispielsweise ein Reallabor für Energiefragen oder digitale Klimaschutzlösungen – zu etablieren, die parallel zu den bestehenden Ämtern innovative Projekte wie den Einsatz digitaler Beteiligungsformate oder KI-gestütztes Energiemanagement explorativ erprobt. Damit hier kein Nebeneinander isolierter Strukturen entsteht, bedarf es klarer Schnittstellen, die den Wissenstransfer in den Regelbetrieb sichern. Die kontextuelle Variante schließlich setzt direkt bei den Mitarbeitenden an: Sie verlangt, dass Fachkräfte im Alltag flexibel zwischen stabilisierenden Aufgaben – etwa Genehmigungsverfahren oder Berichtspflichten – und explorativen Projekten wie digitalen Bürgerbeteiligungsformaten oder der Entwicklung ethisch und transparent gestalteter KI-Anwendungen wechseln. Diese ‚Königsdisziplin‘ der Ambidextrie verbindet Stabilität und Innovation am engsten, erfordert aber einen deutlichen Kulturwandel, hohe Selbstorganisation und adaptive Führung.

Die Differenzierung zwischen sequenzieller, struktureller und kontextueller Ambidextrie zeigt mögliche Entwicklungsrichtungen für die Verwaltung auf. Um diese Ansätze jedoch praktisch wirksam werden zu lassen, bedarf es institutionalisierter Formate, die Exploration ermöglichen und zugleich den Anschluss an die Kernorganisation sichern. Reallabore haben sich in diesem Zusammenhang als vielversprechendes Instrument etabliert. Sie ermöglichen es, explorative Ansätze in einem geschützten Kontext zu testen und die Ergebnisse anschließend in die Linienorganisation zu überführen. Die Herausforderung besteht jedoch darin, diese Experimentierräume nicht als isolierte Innovationsinseln zu belassen, sondern sie durch Brückenfunktionen und klare Schnittstellen mit der Kernverwaltung zu verbinden, um Synergien zu schaffen.

Ein Blick über nationale Grenzen hinaus zeigt, dass Ambidextrie in der Verwaltung keine bloße Theorie ist, sondern bereits in der Praxis funktioniert. In Finnland setzt die Regierung auf Reallabore, um neue Ansätze in der Sozialpolitik zu testen. Ein bekanntes Beispiel ist das von 2017 bis 2018 durchgeführte Experiment zum bedingungslosen Grundeinkommen, bei dem 2.000 zufällig ausgewählte arbeitslose Personen zwei Jahre lang ein monatliches Grundeinkommen erhielten. Im Rahmen von Reallaboren werden in Finnland zudem immer wieder neue arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und digitale Beteiligungsformate erprobt. Charakteristisch für diese Reallabore ist, dass sie zeitlich befristet, wissenschaftlich begleitet und anhand klarer Evaluationskriterien bewertet werden, bevor über eine mögliche Ausweitung entschieden wird. In Deutschland hat sich die Nutzung von Reallaboren und verwandten Innovationsformaten in den vergangenen Jahren deutlich erweitert. Während politische oder sozialstaatliche Experimente bislang seltener sind, werden insbesondere technische, stadtentwicklungsbezogene und verwaltungsinnovative Fragestellungen in Reallaboren bearbeitet – etwa im Bereich der Mobilität, Energie und Digitalisierung (Digitale Mobilität). Ergänzend dazu schaffen Experimentierklauseln als rechtliche Ausnahmeinstrumente Spielräume, um innovative Prozesse zu erproben und zu bewerten. Sie ermöglichen es Verwaltungen, neue Ansätze in einem klar definierten, kontrollierten Rahmen zu testen und dabei von der Interaktion mit Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu profitieren, ohne dabei das gesamte Regelwerk zu gefährden. Reallabore in der Binnenperspektive der Verwaltung – sogenannte Gov-Labs – sind geschützte Räume, in denen Verwaltungsmitarbeitende abseits der Linienstrukturen neue Lösungsansätze entwickeln, testen und für den Verwaltungsalltag nutzbar machen können. Beispiele hierfür sind das GovLabDE, das I-Lab des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des BMAS und das Labor für innovative Verwaltung in Baden-Württemberg (InnoLab_bw). Diese Formate fördern agile, experimentelle Arbeitsweisen, stärken die Selbstorganisation und tragen dazu bei, explorative Kompetenzen dauerhaft in die Verwaltungsorganisation zu integrieren.

Gleichzeitig bleibt jedoch festzuhalten, dass die evidenzbasierte Bewertung dieser Ansätze bisher weitgehend unzureichend ist. Systematische Langzeitstudien, die Nutzen, Skalierbarkeit und Risiken von Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung umfassend analysieren, fehlen größtenteils. Gerade vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was den spezifischen Mehrwert ambidextrer Ansätze ausmacht. Ambidextrie geht über klassische Innovationsförderung hinaus, weil sie das gleichzeitige Management von Stabilität und Innovation systematisch adressiert. Während andere Ansätze meist die Förderung von Neuerungen oder die Optimierung des Bestehenden in den Fokus rücken, ist Ambidextrie ein Steuerungsprinzip, das beide Pole explizit als gleichwertige und parallel notwendige Organisationsaufgaben anerkennt. Sie liefert somit ein konkretes konzeptionelles Rahmenwerk, an dem sich Führung, Strukturen und Kultur gezielt ausrichten können – und ist damit mehr als nur eine Innovationsheuristik, sondern ein Ansatz zur dauerhaften Balancierung von Kontinuität und Wandel.

Themenkonjunkturen

Folgenabschätzung

Möglichkeiten

  • Förderung von Innovation und Kreativität in der Verwaltung
  • Verbesserung der Anpassungsfähigkeit an disruptive Veränderungen
  • Erhöhung der Attraktivität des öffentlichen Dienstes durch moderne Arbeitsmodelle
  • Aufbau eines resilienten und lernfähigen Verwaltungssystems
  • Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit und des Wissensaustausches

Wagnisse

  • Gefahr der Überforderung von Mitarbeitenden beim gleichzeitigen Ausbalancieren widersprüchlicher Logiken
  • Ressourcenknappheit und Konflikte bei der Allokation zwischen Exploitation und Exploration
  • Kultureller Widerstand gegen Transformation und Innovation
  • Risiko der Isolation explorativer Einheiten ohne Rückbindung an die Kernorganisation
  • Rechtliche und strukturelle Barrieren für Experimentierräume und neue Ansätze

Handlungsräume

Rahmenbedingungen schaffen

Damit Ambidextrie in der öffentlichen Verwaltung erfolgreich umgesetzt werden kann, müssen zentrale Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst bedarf es eines angepassten Rechtsrahmens, der explorative Ansätze wie Experimentierräume und agile Prozesse institutionell verankert. Experimentierklauseln können ein erster Schritt sein, um Innovation zu ermöglichen, ohne die rechtkonforme Arbeit der Verwaltung auszuhebeln. Ebenso wichtig ist die Ressourcenausstattung: Explorative Prozesse erfordern Zeit, Budget und qualifizierte Mitarbeitende – Voraussetzungen, die in vielen Verwaltungen aufgrund chronischer Knappheit nicht gegeben sind. Ohne signifikante strukturelle Investitionen und eine realistische Planung der notwendigen Ressourcen bleiben Ambidextrie-Modelle jedoch akademische Konzepte, die in der praktischen Verwaltungsarbeit kaum Fuß fassen.

Experimentierräume schaffen: Gov-Labs für innovative Verwaltung

Gov-Labs sind interne Reallabore, die innerhalb der Verwaltung als geschützte Räume für explorative Ansätze dienen. Sie bieten Verwaltungsmitarbeitenden die Möglichkeit, abseits der regulären Linienstrukturen innovative Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln und zu testen. Der Fokus liegt dabei auf der Binnensicht der Verwaltung: Gov-Labs schaffen Freiräume, in denen bestehende Prozesse hinterfragt, neue Ansätze prototypisch entwickelt und deren Umsetzung auf die Alltagstauglichkeit der Verwaltung geprüft werden können. Die Ergebnisse dieser Experimente müssen systematisch evaluiert und – bei Erfolg – gezielt in die Linienorganisation integriert werden. Entscheidend hierfür sind klare Schnittstellen und Prozesse, die gewährleisten, dass die in den Gov-Labs erarbeiteten Innovationen nicht isoliert bleiben, sondern skalierbar und nachhaltig in den Verwaltungsalltag eingebettet werden. Gov-Labs fördern so nicht nur die Innovationskraft der Verwaltung, sondern stärken auch deren Fähigkeit, sich kontinuierlich selbst zu hinterfragen und anzupassen.

Führung neu denken: Ambidextriefähige Leadership-Konzepte

Für den Erfolg von Transformationsprozessen ist die Führungsebene zentral. Führungskräfte müssen nicht nur strategische Visionäre sein, sondern auch Moderatoren zwischen den widersprüchlichen Anforderungen von Effizienz und Innovation. Dies erfordert ein Führungsverständnis, das auf Vertrauen, Fehlertoleranz und der produktiven Nutzung von Spannungen basiert. Statt zwischen Stabilität und Innovation zu wählen, müssen sie ein Gleichgewicht schaffen – durch klare Visionen, gezielte Ressourcenzuweisungen und die Förderung einer lernorientierten Kultur. Die Entwicklung ambidextriefähiger Führungskonzepte ist hierfür essenziell. Führungskräfte müssen die Fähigkeit entwickeln, Spannungen zwischen Effizienz und Innovation produktiv zu managen. Dies erfordert eine gezielte Förderung von Kompetenzen wie strategischem Denken, Konfliktmoderation und der Gestaltung von Freiräumen für Exploration. Schulungsprogramme und Mentoring können hier unterstützend wirken. Zudem ist es Aufgabe der Führung, eine Vision zu formulieren, und im Dialog mit den Mitarbeitenden lebendig werden zu lassen, sodass Orientierung entsteht und Motivation zur aktiven Mitgestaltung der Transformation gefördert wird.

Fehlerkultur etablieren: Bei Regelkonformität kontrollierten Regelbruch nutzen

Ein weiterer Schlüssel ist der Kulturwandel: Weg von reiner Regelkonformität hin zu einer Fehlerkultur, die Innovation als Lernprozess versteht. Ohne eine solche Kultur besteht die Gefahr, dass innovative Ansätze durch übermäßige Bürokratie und Angst vor Fehlern erstickt werden. Erfolgreiche Exploration setzt voraus, dass Fehler nicht als Scheitern, sondern als Lernchancen verstanden werden. Dies erfordert einen kulturellen Wandel, der neben die Regelkonformität eine Kultur des kontrollierten Regelbruchs stellt. Experimentierklauseln sowie transparente Kriterien für den Umgang mit Fehlern können helfen, diesen Wandel zu fördern. Führungskräfte müssen als Vorbilder agieren und zeigen, dass Fehlertoleranz nicht als Schwäche, sondern als Stärke einer lernenden Organisation verstanden wird. Gleichzeitig steht diese Forderung nach einer Fehlerkultur jedoch in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zu den Prinzipien der öffentlichen Verwaltung, die auf Rechtmäßigkeit und Verlässlichkeit basieren. Die damit verbundenen Legitimitätsrisiken sowie haftungsrechtlichen Einschränkungen werden oft unterschätzt. Gerade deshalb braucht es klare Leitplanken, innerhalb derer Fehler als kontrollierter Regelbruch ein notwendiger Schritt zu Innovation und Ambidextrie verstanden werden können. Auch die Mitarbeitenden spielen eine aktive Rolle: Sie benötigen gezielte Schulungen, kontinuierliche Feedbackprozesse und Freiräume für explorative Projekte. Gleichzeitig ist ein Wertewandel erforderlich: Mitarbeitende sollten nicht nur als Ausführende, sondern als Mitgestaltende verstanden werden, die mit ihrer Arbeit aktiv zu einer lebenswerten Zukunft beitragen (Usability). So wird die Verwaltung nicht nur als Garant für Stabilität wahrgenommen, sondern auch ein aktiver, gestaltender Akteur im gesellschaftlichen Wandel werden können.

Interdisziplinäre Netzwerke fördern: Brücken zwischen Silos bauen

Ambidextrie erfordert und ermöglicht Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg. Die Einrichtung von interdisziplinären Netzwerken und Plattformen, die den Austausch zwischen exploitativen und explorativen Bereichen fördern, ist daher zentral. Diese Netzwerke dienen nicht nur der Wissensweitergabe, sondern auch der Entwicklung gemeinsamer Perspektiven und Lösungen. Eine stärkere digitale Vernetzung kann diesen Prozess zusätzlich beschleunigen. Die Etablierung von Gov-Labs klingt zwar vielversprechend und innovativ, doch in der Praxis entstehen häufig isolierte Innovationsinseln, die eher zu Fragmentierung und interner Ressourcenkonkurrenz führen als zu wirklicher Integration. Ohne klare Verbindungen zur Kernverwaltung drohen Ergebnisse ungenutzt zu bleiben, was Innovationspotenzial vergeudet und Frustration erzeugt. Um Ambidextrie tatsächlich wirksam zu gestalten, bedarf es daher einer bewussten Vernetzung und Verankerung explorativer Einheiten innerhalb der Gesamtorganisation. Es müssen Brückenfunktionen und Schnittstellen zwischen exploitativen und explorativen Einheiten geschaffen werden, um Synergien zu fördern und Silobildung zu vermeiden. So kann Ambidextrie nicht nur ein Schlagwort bleiben, sondern zu einem lebendigen Prinzip für zukunftsfähige und resilientere Verwaltungsstrukturen werden.

Wissenschaftliche Evidenz schaffen

Für die öffentliche Verwaltung besteht weiterhin ein erheblicher Bedarf an empirischen Studien, um die Kenntnisse über Ambidextrie zu erweitern. Besonders wertvoll wären hier Längsschnittstudien, die Aufschluss über die Entwicklung ambidextrer Konfigurationen im Zeitverlauf geben und so ein tieferes Verständnis über deren Wirksamkeit und Grenzen ermöglichen. Ohne robuste empirische Evidenz bleiben die Modelle spekulativ und laufen Gefahr, eher modischen Trendbegriffen als belastbaren Modernisierungsinstrumenten zu entsprechen. Für einen wissenschaftlich fundierten Diskurs zur Verwaltungsmodernisierung ist es daher essenziell, stärker auf evaluierte Praxisbeispiele und die langfristigen Wirkungen solcher Ansätze zu setzen, um nachhaltige und realistische Reformstrategien zu entwickeln.

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