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Die Corona-Warn-App – vom Kulturwandel hin zu einer gesellschaftlichen Technikgestaltung

Die Corona-Warn-App – vom Kulturwandel hin zu einer gesellschaftlichen Technikgestaltung

von Karoline Krenn und Jens Tiemann

Am 16. Juni 2020 ist die deutsche Corona-Warn-App der Öffentlichkeit vorgestellt worden und ist seitdem zum Download verfügbar. Da es dabei um den Umgang mit äußerst sensiblen Daten geht, wurde um die Funktionsweise und Ausgestaltung der App lange gerungen. Kennzeichnend für diesen Prozess war, dass der Veröffentlichung eine breite öffentliche Debatte vorausgegangen war, die möglicherweise einen neuen Standard der gesellschaftlichen Technikgestaltung setzen wird.

Anforderungen an Technik klären sich im Diskurs

Mit der Corona-Warn-App sollte eine Anwendung entwickelt werden, um Infektionsketten effektiv aufzuspüren und damit die Ausbreitung der Pandemie unter Kontrolle zu halten. Anfangs wirkte die Gestaltungsaufgabe klar. Die Anforderungen an die App schienen sich allein aus den Bedarfen des epidemiologischen Expertenkreises und den technischen Möglichkeiten abzuleiten. Die technische Umsetzung entpuppte sich allerdings nicht nur als eine Frage der Machbarkeit und schon gar nicht als eindeutig bestimmt. Die im April 2020 einsetzenden Kontroversen um Technikfolgen wie bspw. Umfang und Art der Datenspeicherung rückten die Auswirkungen der App auf Nutzer:innen stärker in das Blickfeld, vor allem die Problematik der Nachverfolgung von Aktivitäten.

Nutzerperspektive stärkt die Akzeptanz

Die Effektivität einer solchen App ist von der Bereitschaft zur Nutzung in der Bevölkerung abhängig – je höher der Nutzungsanteil, umso effektiver die Eindämmungsmöglichkeit. Eine aktuelle Deutschlandtrend-Umfrage vom 4. Juni 2020 kommt zum Ergebnis, dass die Ablehnung einer solchen App durch die Bevölkerung mehrheitlich mit Überwachung und Persönlichkeitsrechten begründet wird. Datenschutz spielt für die Akzeptanz eine große Rolle. Das erklärte Ziel aller beteiligten Entwicklergruppen war es daher von Anfang an, Datenschutzprinzipien bereits im Design der App zu berücksichtigen. Die Corona-Warn-App ist damit ein Beispiel für die angestrebte Umsetzung von Privacy-by-Design, wie sie auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2018 verankert ist. Es wurde jedoch schnell klar, dass nicht nur eine Lösung möglich war. Das Privacy-by-Design-Prinzip bietet verschiedene Wege für die konkrete Realisierung von Technik.

Zielkonflikte auf die Vorderbühne bringen

Eine ursprünglich zentralisierte Variante der App sah vor, dass Informationen über Infizierte pseudonymisiert an eine Gesundheitsbehörde versendet werden, wo riskante Kontakte berechnet werden und weitere Auswertungen möglich wären. Dagegen sieht das nun gewählte dezentrale Modell vor, dass eine Berechnung von Kontakten und Risiken nur auf den individuellen Geräten der Nutzer:innen geschieht. Die verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten gewichteten die entstehenden Risiken für Privatheit und Datensicherheit unterschiedlich. Die Entscheidung zugunsten des dezentralen Modells erfolgte schließlich auch, um das Vertrauen in die technische Lösung zu stärken.

Mit der öffentlichen Aufmerksamkeit um die Systemarchitektur der deutschen Corona-Warn-App wurden die Möglichkeiten von Technikgestaltung sichtbar. Zielkonflikte, die sich sonst nur in bestimmten Nischen oder auf Hinterbühnen abspielen (z. B. zwischen Auftraggeber:innen und Auftragnehmer:innen ausgehandelt werden), wurden breit und ergebnisoffen diskutiert.

Konstruktive Diskussion ist keine überflüssige Verzögerung

Nach Ansicht der Autor:innen hat der öffentliche Austausch von Argumenten unter Einschluss verschiedener Positionen (z. B. dem Interesse von Forschungseinrichtungen an zentral gespeicherten Daten) die App nicht wesentlich verzögert. Parallel waren spezialisierte Schnittstellen der Betriebssysteme für eine effiziente dezentrale Lösung ebenfalls noch in der Entwicklung. Vielmehr wurde deutlich, dass die Diskussion über Technik zu besseren Lösungen führen kann.

Es geht um den Prozess: Gelingende Technikgestaltung setzt voraus, dass Unterschiede und Folgen technischer Umsetzungen von den Handelnden gemeinsam betrachtet werden. Dabei werden kontroverse Einschätzungen durch Expert:innen und Betroffene gefördert und ihre Perspektiven kontextualisiert.

Durch die umfängliche Debatte um die App wurde ersichtlich, dass sich selbst die Gestaltungsaufgabe noch im Klärungsprozess befand. Im Ergebnis setzte sich eine Trennung von Datenspenden und der Identifikation von Infektionsketten durch. Damit war der Weg frei für Nutzung eines dezentralen Ansatzes für die Corona-Warn-App, wobei Datensparsamkeit und Schutz der Privatsphäre nach dem Privacy-by-Design-Prinzip durch die Art der Realisierung in die Technik eingeprägt sind.

Letztendlich ist die Verantwortung für Technikgestaltung im öffentlichen Raum immer politisch. In der Auseinandersetzung um die App bewiesen die politischen Akteure Weitsicht: der konstruktiven gesellschaftlichen Diskussion wurde Raum gegeben und damit eine wesentliche Voraussetzung für die breite Akzeptanz einer technischen Lösung geschaffen, bevor die Umsetzung einer Architektur Fakten schaffen konnte.

Was braucht es noch?

Natürlich gab es auch Reibungsverluste und manches hätte besser laufen können. Insbesondere war anfangs nicht klar, wer in diesem Prozess die Leitrolle übernehmen soll. Eine strukturierte Moderation der Auseinandersetzung hätte die öffentliche Irritation über sich verändernde Zielsetzungen und Prioritäten verringern können. Auch hätte die Partizipation noch breiter sein und relevante Gruppen gezielt eingebunden werden können. Hier wurde eine Gestaltungslücke sichtbar, die auch Chancen eröffnet, politische Gestaltung greifbarer zu machen. In diesem Zusammenhang sind wiederkehrende Forderungen nach einem Technikgestaltungsmandat laut geworden, z. B. in Form eines Digitalministeriums. Zwar gibt es bereits eine Reihe von Stellen und Einrichtungen, welche über diesbezügliche Kompetenzen verfügen, in diesem Prozess allerdings keinen Auftrag erhalten hatten und darum weitgehend zurückhaltend blieben.

Elemente eines gesellschaftlichen Technikgestaltungsprozesses

In der Zukunft werden gerade bei der Digitalisierung weiterhin viele technische Entscheidungen mit Tragweite getroffen werden. Nur wenige davon werden die öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, wie sie die Corona-Warn-App erfuhr – es sei denn, die Chance auf einen Wandel hin zu einer gesellschaftlichen Technikgestaltung wird genutzt. Gesellschaftliche Technikgestaltung macht verschiedene Deutungsrahmen für technische Bewertungs- und Entscheidungsprozesse sichtbar und damit die Technikentwicklung für Nicht-Techniker:innen nahbar, indem sie vier wesentliche Aspekte in den Mittelpunkt rückt: Zunächst klärt sie die Gestaltungsaufgabe. Dazu sind die relevanten Akteur:innen und Interessen zu identifizieren. Dadurch werden die Zielkonflikte sichtbar, für die in der Technikmodellierung Lösungen gefunden werden müssen. Es geht dabei bspw. nicht nur um die technische Lösung, sondern auch darum, wie die Nutzung organisatorisch und rechtlich dauerhaft eingehegt wird. Die Diskussion um ein begleitendes Gesetz zur Corona-Warn-App ist hierfür ein gutes Beispiel.

Kulturwandel eingeleitet?!

Eine sinnvolle Bewertung des Nutzens und der Folgen der Corona-Warn-App kann natürlich erst später erfolgen. Die Einschätzungen der IT-Community, die den Open-Source-Entwicklungsprozess verfolgt hat, fallen durchwegs positiv aus. Die Bewertung ist aber noch von vielen weiteren Faktoren wie der Zugänglichkeit zur App, der allgemeinen Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Lösung oder auch von technischen Faktoren wie Kompatibilität mit älteren Geräten oder Stromverbrauch abhängig. Die dezentrale Lösung bedarf des verantwortlichen Handelns der Bürger:innen. Wie auch immer der Erfolg der Corona-Warn-App ausfällt, das Zustandekommen skizziert ein Modell für gesellschaftliche Technikgestaltung bei öffentlich finanzierten Digitalisierungsprojekten. Damit wurde im besten Fall ein kultureller Wandel eingeleitet oder ein neuer Standard gesetzt, hinter den man nun nicht mehr zurück sollte.


Veröffentlicht: 18.06.2020