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Pay-as-you-live

  Bibliographische Angaben

Pay-as-you-live

Autorinnen / Autoren:
Nicole Opiela
Zuletzt bearbeitet:
April 2019
Titel:
Pay-as-you-live
Trendthema Nummer:
50
Herausgeber:
Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Titel der Gesamtausgabe
ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
Erscheinungsort:
Berlin
Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
URL:
https://www.oeffentliche-it.de/-/pay-as-you-live
ISBN:
978-3-9816025-2-4
Lizenz:
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.

Ein lauter Knacks, ein stechender Schmerz und die Röntgenaufnahme bestätigt: Das Bein ist gebrochen! Schlimm genug – aber wenigstens ist die Finanzierung der ärztlichen Versorgung gesichert: Die Krankenkasse übernimmt. Die Solidargemeinschaft der Versicherten fängt das Krankheitsrisiko auf, egal, ob der Beinbruch aus einer Verkettung unglücklicher Umstände herrührt oder vom Ausüben einer Extremsportart. Was aber ist, wenn Versicherungsbeiträge oder Gesundheitsleistungen plötzlich von der eigenen Lebensweise abhängen? Wenn bei Extremsportarten höhere Beiträge oder eingeschränkte Leistungen die Folge sind – oder auch bei einer nicht ausreichenden Aufnahme von Kalzium?

Niedrigere Beiträge bei Preisgabe persönlicher Daten

Versicherungen schützen vor den Folgen unerwünschter, schwer vorhersehbarer und mitunter kostspieliger Ereignisse. Um die enorme Wohlfahrtssteigerung durch Versicherungen zu verstehen, reicht es, sich die Folgen ihres Fehlens zu vergegenwärtigen: Beispielsweise, wenn bei Krankheit die Arztkosten nicht aufgebracht werden können, ein Arbeitsunfall die Lebensgrundlage entzieht oder ein unachtsamer Moment zu enormen Folgekosten führt. Versicherungen sorgen dafür, dass solche Risiken auf eine hinreichend große Gruppe verteilt werden, um sie gemeinsam tragen zu können. Höchst unterschiedlich ist dabei, wie sehr das individuelle Schadensrisiko bei der Bestimmung des Versicherungsbetrags berücksichtigt wird. Kommt die gesetzliche Pflegeversicherung ganz ohne Risikobezug aus, bestimmt sich die Autoversicherung unter anderem nach Region, Fahrzeugtyp und Unfallhistorie. Pay-as-you-live treibt die Berücksichtigung individueller Risiken weit darüber hinaus.

Pay-as-you-live (PAYL) bezeichnet eine Form der Versicherung, bei der anhand der Analyse großer Datenmengen individuelle Versicherungsprämien für jeden Nutzer errechnet werden. Wer der Versicherung seine Daten zur Verfügung stellt, kann für risikoaverseres Verhalten durch niedrigere Beiträge belohnt werden. So können die Prämie für die Autoversicherung durch einen defensiveren Fahrstil oder die Beiträge zur Krankenversicherung durch gesundheitsbewussteres Verhalten oder häufigeres Sporttreiben sinken. Bei Preisgabe persönlicher Daten winken potenziell niedrigere Beiträge.

Begriffliche Verortung

Netzwerkartige Verortung des Themenfeldes
Gesellschaftliche und wissenschaftliche Verortung für die Begriffskombination »pay as you«, »pay how you« oder »telematics« und »insurance«

Individuelle und gesamtgesellschaftliche Potenziale

Die Grundidee klingt nach der Vollendung versicherungsmathematischer Optimierungen für die Versicherungen, die nunmehr durch exakte Risikobewertungen maßgeschneiderte und damit für sie besonders einträgliche Policen anbieten können. Es gibt für die Versicherungen keine schlechten Risiken mehr, weil sie sich weitgehend vorab bestimmen und entsprechend bepreisen lassen. Jede Versicherung, die auf Möglichkeiten der Individualisierung verzichtet, wäre – einen perfekten Markt unterstellt – immer im Nachsehen: Für Personen mit geringerem Risiko wären die Policen zu teuer und damit nicht mehr konkurrenzfähig, während Personen mit erhöhtem Risiko für die Versicherung zu mehr Kosten als Einnahmen führen. PAYL birgt also einiges Potenzial für die Umwälzung des Versicherungsmarktes.

Auch den Versicherten und der Gesellschaft versprechen die Individualisierungsmöglichkeiten Flexibilität und Fairness. So werden Kurzzeitversicherungen möglich, um beispielsweise das Auto spontan privat verleihen zu können. Die Versicherten müssen nicht mehr jedes von Dritten eingegangene Risiko mittragen und können durch eigene Verhaltensanpassungen Einfluss auf den Preis nehmen. Gesamtgesellschaftlich könnte dies zu insgesamt sinkenden Versicherungskosten bei höherem Risikobewusstsein führen. Abschläge für defensive Fahrweise führen zu einem insgesamt sichereren Autoverkehr – egal ob Menschen oder Maschinen das Fahrzeug steuern (siehe Autonomes Fahren).

Sanktionierung unerwünschten Verhaltens

Private Versicherungen und Zusatzversicherungen erfordern schon lange die Preisgabe privater Daten wie der Krankheitsgeschichte, bevor ein Versicherungsvertrag abgeschlossen werden kann. Neu sind jedoch das Ausmaß und die Verarbeitungsgeschwindigkeit großer Datenmengen. Fitnesstracker (siehe Wearables), Smarte Umgebungen (siehe Ambient World) und das Internet der Dinge stellen mehr und mehr personenbeziehbare Daten zur Verfügung.

Während für PAYL-Autoversicherungstarife heute noch eigene Boxen installiert werden, die das Fahrverhalten erfassen, könnte die Fahrzeug-IT die erforderlichen Daten schon bald routinemäßig sammeln. Solche Daten ermöglichen es, Gewohnheiten, Bewegungs- und Verhaltensmuster zu rekonstruieren. Die Versicherungen dringen damit tief in die Privatsphäre der Versicherten ein und bepreisen abweichendes Verhalten. Anders als beim Stupsen verändern PAYL-Versicherungen nicht nur die Entscheidungssituationen, sondern sanktionieren unerwünschtes Verhalten.

Themenkonjunkturen

Suchanfragen für den Begriff »pay how you drive« und Zugriffe auf Wikipedia-Artikel »Pay as you drive«
Wissenschaftliche Publikationen und Patentanmeldungen für die Begriffskombination »pay as you«, »pay how you« oder »telematics« und »insurance«

Das Ende der Versicherungswirtschaft?

Solche Gefahren von Konformitätszwang durch Verhaltensüberwachung und -kontrolle erfordern eine kritische Bewertung der betrachteten Daten. So kann die Interpretation von beispielsweise Gesundheitsdaten durchaus ambivalent sein: Während regelmäßiges Lauftraining einerseits Übergewicht vorbeugt, werden andererseits auch die Gelenke schneller abgenutzt. Welches Verhalten sollte die Versicherung also belohnen? Ist das, was für den einen gut ist, automatisch auch gut für den anderen? Hinzu kommen immer wieder medizinische Irrtümer bzw. Fehlsteuerungen aufgrund vorher unbekannter Zusammenhänge. Wer kontrolliert, welche Algorithmen die Versicherungen ihren Berechnungen zugrunde legen, und ob diese angemessen und gerechtfertigt sind? Zugleich bedarf es einer Auseinandersetzung, welche Risikofaktoren ethisch und politisch gerechtfertigt sind. Unisex-Versicherungen sind nur ein Beispiel hierfür: Erhöhte Krankenkosten oder niedrigere KFZ-Unfallstatistiken für Frauen dürfen gemäß einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht mehr eingepreist werden.

Die Grundfunktion einer jeden Versicherung ist die Risikoabsicherung, bei der eine Gemeinschaft die individuellen Schadensfolgen auffängt. Dies gilt in gleicher Weise für solidarisch- wie für risikoorientierte Versicherungsmodelle, wie der Vergleich von gesetzlicher und privater Krankenversicherung zeigt. Aber was ist, wenn in (ferner) Zukunft bei perfekter Datenlage und fehlerfreien Algorithmen jeder Schadenseintritt genau vorhersehbar wäre und mit einem entsprechenden Preisschild versehen würde? Wozu bräuchten wir dann überhaupt noch Versicherungen? Wenn jeder genauso viel einzahlt, wie es sein persönliches Risiko erfordert, kann man das Geld auch genauso gut sparen, um selbst für die Kosten aufzukommen. Nicht nur das Solidarprinzip wäre dann vollständig ausgehebelt. Die versicherungsmathematische Optimierung führt letztlich auch das Versicherungsprinzip ad absurdum. Aus dieser Perspektive erscheint PAYL also nur als der erste Schritt auf dem Weg der Versicherungswirtschaft, sich selbst abzuschaffen.

Folgenabschätzung

Möglichkeiten

  • Flexible Kurzzeitversicherungsangebote
  • Mehr Kontrolle für Versicherte und Versicherungen
  • Individuelle und kollektive Kostenersparnis
  • Aktive Möglichkeiten der Beeinflussung des Versicherungsbeitrags durch den Versicherten
  • Information und Lerneffekte durch Vorgaben für Vergünstigungen
  • Höhere Effizienz des Versicherungsmarktes
  • Wohlfahrtsgewinne durch Schadensreduzierung

Wagnisse

  • Druck zur Preisgabe sensibler Daten
  • Verhaltensüberwachung und -beeinflussung
  • Berücksichtigung gesellschaftlicher Ziele in der Anreizgestaltung
  • Schutz vor Datenmissbrauch
  • Fehlsteuerung durch falsche oder diskriminierende Anreize
  • Aushöhlung des Versicherungsprinzips
  • Abwälzung der Risiken auf den Einzelnen
  • Abnahme der gesellschaftlichen Kohäsion

Handlungsräume

Potenziale ausloten

Staatliche Verhaltensbeeinflussung etwa durch Spezialsteuern auf besonders gesundheitsschädliche Produkte sind wohlvertraut. Solche Steuerungsaspekte in gesetzlichen Sozialversicherungen oder die Regulierung der Versicherungswirtschaft einzuführen, geht einen Schritt weiter, weil es sich auf die Bewältigung von Lebensrisiken auswirken kann. Zuvor bedarf es genauer Analysen, ob die gewünschten Wohlfahrtseffekte überhaupt erreicht werden.

Datenschutz und Transparenz

Die Regeln für den Umgang mit Daten müssen klar definiert sein. Dies betrifft auch Vorgaben zu Anonymisierung und Löschung sowie Informationen über die eingesetzten Algorithmen zur Berechnung des Versicherungsrisikos. Die Versicherten sollten jederzeit Einblick erhalten können, welche Daten über sie vorliegen und welchen Einfluss sie selbst auf die Berechnung ihrer Versicherungsprämie haben bzw. unter welchen Bedingungen sie einen günstigeren Tarif erhalten hätten.

 

Anti-Diskriminierung und Preiskontrolle

Statistisch kann jedes Merkmal zur Bestimmung des Schadensrisikos herangezogen werden. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto mehr versicherungsmathematisch signifikante, inhaltlich aber gegenstandslose Kriterien für das Schadensrisiko lassen sich finden. Dies öffnet Tür und Tor für vielfältige Diskriminierungen. Die von den Versicherungen angelegten Kriterien sollten daher einer Genehmigung bedürfen. Bei der Absicherung von Lebensrisiken ist eine Beschränkung auf von den Versicherten beeinflussbare und unstrittig wirksame Kriterien bei geringer Preisdifferenzierung sinnvoll.