Reale Virtualität
Reale Virtualität
- Autorinnen / Autoren:
- Christian Welzel
- Zuletzt bearbeitet:
- Juli 2017
- Titel:
- Reale Virtualität
- Trendthema Nummer:
- 43
- Herausgeber:
- Kompetenzzentrum Öffentliche IT
- Titel der Gesamtausgabe
- ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
- Erscheinungsort:
- Berlin
- Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
- Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
- URL:
- https://www.oeffentliche-it.de/-/reale-virtualitat
- ISBN:
- 978-3-9816025-2-4
- Lizenz:
- Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.
Durch zahlreiche neue Produkte erlebt das Thema virtuelle Realität gerade seinen nächsten Hype. Im Virtuellen werden Räume geschaffen, die mit immer mehr Sinnen erlebbar gemacht werden. Jenseits des Hypes erobert das Virtuelle längst die Realität: Das smarte Haus steuert sich selbst und smarte Produkte teilen Maschinen mit, wann sie wie zu produzieren sind und wohin sie versendet werden sollen. Durch die scheinbar allumfassende digitale Vernetzung dringt die virtuelle Welt immer stärker in die reale vor – das Virtuelle wird real.
Eintauchen in virtuelle Welten und Gemeinschaften
Bei den meisten Menschen ist die Digitalisierung durch Smartphone, Tablet und PC bereits allgegenwärtig. Zunehmend werden dabei auch Alltagsgegenstände in die virtuelle Sphäre eingebunden. Bereits heute ist absehbar, dass langfristig ein Großteil der physischen Entitäten eine oder mehrere virtuelle Entsprechungen erhalten werden. Nicht nur Menschen repräsentieren sich beispielsweise in sozialen Netzwerken und bilden virtuelle Gemeinschaften. Durch das Internet der Dinge erhalten physische Objekte nun ebenfalls eine virtuelle Abbildung.
Die Beschäftigung mit virtuellen Repräsentationen reicht lange zurück. Auch jenseits von literarischer Fiktion und bewusstseinserweiternden Praktiken erlebte die digital induzierte Auseinandersetzung mit virtuellen Realitäten spätestens mit dem Erfolg von umfassenden Simulationen des täglichen Lebens und von Fantasy-Welten bereits zur Jahrtausendwende einen Höhepunkt. Avatare als virtuelle Abbilder durchleben Parallelwelten, in denen die Spielenden über völlig neue Eigenschaften verfügen können. Das als Immersion bezeichnete Eintauchen in diese Welten funktionierte schon damals trotz wenig realitätsgetreuer visueller Darstellung.
Gegenwärtig kommen neue Endgeräte auf den Markt, die eine weit detailreichere Abbildung erlauben. VR-Brillen schneiden die visuelle Wahrnehmung ihrer Träger von der Außenwelt ab und schaffen eine realistische Erlebniswelt.
Solche virtuellen Realitäten bleiben nicht ohne Auswirkungen auf ihre Nutzer und die Gesellschaft als Ganzes und entfalten über klassische Fiktionen hinaus eine beträchtliche Wirkmacht. In Anlehnung an das Thomas-Theorem lässt sich schlussfolgern, dass als real empfundene Virtualität direkte Wirkung für das reale Leben entfaltet. So erhalten auch virtuelle Objekte ihre reale Repräsentation, wenn beispielsweise auf nur im Smartphone sichtbare Taschenmonster in der realen Welt Jagd gemacht wird.
Aus der Perspektive der Informatik steht der Begriff Virtualisierung für die Erzeugung virtueller Objekte mit dem Ziel, bestimmte Eigenschaften zu emulieren. Sie kann auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. So können beispielsweise Anwendungen oder Betriebssysteme, aber auch komplette PC-Systeme oder physische Objekte virtualisiert werden. Der Begriff Virtualität leitet sich daraus ab und wird in vielfältigen Kontexten verwendet: etwa virtueller Arbeitsplatz, virtuelle Maschinen oder auch virtuelle Netzwerke (s.a. Cloud Computing).
Die Virtualisierung physischer Objekte markiert einen weiteren Schritt des Verschwimmens von Realität und Virtualität. Virtuelle Realität erweitert die Möglichkeiten der realen Welt oder erschafft ganz neue eigene Welten. Mit der Umkehrung des Begriffs in reale Virtualität lässt sich bezeichnen, dass die digitale Welt mittlerweile noch weiterreicht. Sensoren erfassen Daten und ermöglichen so eine virtuelle Projektion der Umgebung. Aktoren bieten zudem die Möglichkeit, physische Objekte zu steuern, wie beispielsweise eine Tür zu öffnen. Die virtuelle Sphäre kann mittels Aktoren direkt auf die physische Umwelt eingreifen. Das Virtuelle wird real existent und entfaltet gesellschaftliche Bedeutung.
Begriffliche Verortung
Das Verweben von Realem und Virtuellem führt zu schwer abschätzbaren Folgen
Fortschritte in Big Data, neuronalen Netzen und künstlicher Intelligenz treiben die Entwicklung weiter. Dadurch wird nicht nur eine immer schnellere und umfassendere digitale Situationsanalyse möglich, diese Technologien bilden auch eine wesentliche Grundlage für teil- oder vollautomatisierte Entscheidungsprozesse (siehe Denkende Maschinen). Die Brücke zwischen realer und virtueller Welt bilden sogenannte cyber-physische Systeme. Sie verbinden klassische Informationstechnologie, die aufgrund von Sensor- oder anderen Daten Entscheidungen treffen kann, mit Aktoren, die mechanische Aktionen umsetzen.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die sich aus einer Verschmelzung realer und virtueller Welt ergeben, sind vielfältig. Sie werden dann besonders deutlich, wenn die Deutungshoheit über die Welt über digitale Medien (s.a. Massenmedien) vermittelt wird. So erleichtern Suchmaschinenergebnisse, die die Erwartungen vieler Nutzer*innen erfüllen, zwar das tägliche Leben und Arbeiten, sie verhindern aber auch zunehmend, Produkte oder Meinungen abseits des Mainstreams überhaupt zu entdecken („Filterblase"). Social Bots, die in sozialen Netzwerken oder Medienkommentaren gezielt eine bestimmte Mehrheitsmeinung vortäuschen („Meinungsroboter"), beeinflussen politische und gesellschaftliche Diskurse.
Die Möglichkeit, sich der virtuellen Sphäre zu entziehen, wird zunehmend zu einem exklusiven Gut. IT-Allgegenwart senkt Nutzungsschwellen und kann Berührungsängste abbauen, erhöht jedoch auch die Komplexität der IT-Systeme. Dies kann sowohl helfen, digitale Gräben zwischen versierten und nicht-versierten Techniknutzern zu verringern, als auch mit jedem Innovationszyklus und damit einhergehenden Komplexitätssteigerungen neue Gräben aufreißen (siehe Digitale Gräben).
Durch innovative Bedienkonzepte lässt sich dieser Herausforderung nur teilweise begegnen, führt das Verweben von Virtuellem und Realem doch möglicherweise zu schwer abschätzbaren Folgen der eigenen Handlungen (siehe Mensch-Maschine-Interaktion). Damit einher gehen wiederum neue Herausforderungen, etwa die Fragestellung, wie künstliche Assistenten oder Roboter auf sichere Art und Weise manuell unterbrochen bzw. abgeschaltet werden können, um schädliche Handlungen zu verhindern.
Weitere Herausforderungen liegen unter anderem in Haftungsfragen oder der IT-Sicherheit. Kommt es zu einem Schadensfall, greift klassischerweise das Verursacherprinzip. Digitale Prozesse werden jedoch oftmals in Kooperation unterschiedlichster Beteiligter erbracht (Softwareentwickler, Hardwareentwickler, Softwarebetreiber, Datenlieferanten etc.). Hinzu kommt die digitale Vernetzung mit nahezu beliebigen weiteren Komponenten. Erfolgreich ist das Verursacherprinzip aber nur dann, wenn der Verursacher einer Störung eindeutig erkennbar ist, was mit zunehmendem Vernetzungsgrad schwierig wird. Zukünftige Sicherheits- und Haftungsmodelle müssen daher kollektive Aspekte stärker berücksichtigen.
Für einen souveränen Umgang mit dieser neuen digitalen Dimension bedarf es einer angemessenen technologischen Beurteilungskompetenz sowohl jedes Einzelnen als auch innerhalb von Organisationen. Zu einer digital gebildeten Gesellschaft gehört daher ein informationstechnologisches Grundverständnis. Außerdem wird IT in vielen Disziplinen eine unterstützende oder gar bestimmende Rolle einnehmen. Bezieht man zusätzlich die Innovationszyklen digitaler Technologien mit ein, ergibt sich allein daraus eine steigende Bedeutung lebenslangen Lernens (siehe Autodidaktik).
Themenkonjunkturen
Folgenabschätzung
Möglichkeiten
- Komfort- und Effizienzgewinne durch intelligente Assistenzsysteme und selbstgesteuerte automatisierte Prozesse
- Ständige Verfügbarkeit von Wissen und Informationen
- Genauere Analysemöglichkeiten natürlicher Prozesse
- Individuellere Ausgestaltung der persönlichen Umgebung (siehe Ambient World)
- Flexiblere Produktionsprozesse (siehe Industrie 4.0)
- Neue Mittel und Ausdrucksformen für Kunst und Kultur
Wagnisse
- Zunehmende Abhängigkeit von digitalen Technologien, IT als kritische Infrastruktur
- Auflösung der Privatsphäre durch zunehmende Datensammlung und -analyse
- Zunehmende Komplexität und ggf. schwerer nachvollziehbare Entscheidungen
- Ungeklärte Haftungsfragen im Schadenfall
- Fortschreitende Vermischung von Realität und Fiktion
- Gesundheitsauswirkungen und Suchtpotential
Handlungsräume
Technologische Kompetenzen ausbauen
Die Digitalisierung aller Aspekte des öffentlichen Lebens erfordert in sämtlichen Bereichen der öffentlichen Hand informationstechnologische Kompetenzen. Hier ist auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen eigener Beurteilungskompetenz und externer Technikexpertise zu achten. Darüber hinaus muss über geeignete Weiterbildungsangebote eine stetige Weiterentwicklung vorhandener Medienkompetenz sichergestellt werden.
Durch offene Standards fairen Wettbewerb fördern
Digitale Vernetzung erfolgt über technische Schnittstellen. Damit ein fairer Wettbewerb gewährleistet ist, müssen die wesentlichen Schnittstellen auf offenen Standards basieren. Die öffentliche Hand kann dies etwa durch aktive Mitwirkung in Standardisierungsgremien oder über die Berücksichtigung in eigenen Ausschreibungen fördern.
Vorausschau des Regelungsbedarfs
Technologische Entwicklungen und gesellschaftliche Veränderungen stehen in stetiger dynamischer Wechselwirkung zueinander. Um gesetzliche Regelungen überprüfen und rechtzeitig anpassen zu können, bedarf es angesichts der kurzen Innovationszyklen bei digitalen Technologien einer dauerhaften Trend- und Technologiebeobachtung.