Bürger:innenwissenschaft
Bürger:innenwissenschaft
- Autorinnen / Autoren:
- Hannes Wünsche
- Zuletzt bearbeitet:
- Nov 2019
- Titel:
- Bürger:innenwissenschaft
- Trendthema Nummer:
- 56
- Herausgeber:
- Kompetenzzentrum Öffentliche IT
- Titel der Gesamtausgabe
- ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
- Erscheinungsort:
- Berlin
- Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
- Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
- URL:
- https://www.oeffentliche-it.de/-/burger-innenwissenschaft
- ISBN:
- 978-3-9816025-2-4
- Lizenz:
- Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.
In Zeiten von Post-Truth und alternativen Fakten wird in den öffentlichen Diskursen der letzten Jahre auch ein Vertrauensverlust gegenüber der Unabhängigkeit und Verlässlichkeit wissenschaftlicher Ergebnisse zum Ausdruck gebracht. Zugleich erfreut sich die Idee der Bürger:innenwissenschaft (Citizen Science) immer größerer Beliebtheit. Als Ergänzung zur institutionell betriebenen Wissenschaft und gefördert durch die Möglichkeiten digitaler Technologien soll Citizen Science als eine neue Kultur verstanden werden, Forschung transparent und vertrauenswürdig zu betreiben. Offen ist: Führen Mitarbeit und Mitbestimmung zu höherer Legitimität von Forschungsergebnissen oder geht der Einbezug von Bürger:innen und Bürgern mit einem Qualitätsverlust und der beschleunigten Erosion wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit einher?
Partizipationsmöglichkeiten
Zentrales Anliegen der Bürger:innenwissenschaft ist die Teilnahme von Interessierten am Prozess institutionell verankerter Forschungsvorhaben ungeachtet ihrer akademischen Vorbildung. Dabei lässt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze beobachten: Citizen Scientists können professionelle Wissenschaftler:innen in ihrer Forschung unterstützen, indem sie Forschungsdaten sammeln und bereitstellen (siehe Daten-Philanthrop) oder aufbereiten und interpretieren (siehe Mikroengagement). Auch können Citizen Scientists selbst Untersuchungen vornehmen (siehe Funkende Dinge) und diese der institutionalisierten Wissenschaft entgegenstellen.
Allgemeines Ziel solcher Projekte ist es, die Qualität von Forschungsergebnissen durch Partizipation, Mitbestimmung und Diskurs zu erhöhen und den Transfer in die Gesellschaft zu erleichtern. Kritik vonseiten der professionellen Wissenschaft wird vor allem mit Bezug auf einen möglichen Qualitätsverlust in der Forschung geäußert. Die Qualität der von Bürgerinnen und Bürgern erhobenen Daten lasse sich nur schwer nach wissenschaftlichen Maßstäben kontrollieren und die Perspektiven von Laien seien nur schwer im Forschungsalltag und in Fachdiskursen zu integrieren. Statt die Verlässlichkeit der Wissenschaft zu erhöhen, könne Citizen Science diese weiter schädigen und der Unabhängigkeit der Forschung abträglich sein.
Begriffliche Verortung
Neue alte Wege der Forschung
Citizen Science ist kein neues Phänomen. Historisch sind Umwelt- und Naturforschung Disziplinen, welche Citizen Scientist prominent betreiben. Studien zum Wandel der Artenvielfalt von Insekten oder Vögeln sind in ihrer flächendeckenden Form undenkbar ohne die Unterstützung einer großen Gemeinschaft an engagierten, unentgeltlich mitarbeitenden Entomolog:innen und Ornitholog:innen – eine Arbeit, deren Bedeutung angesichts der aktuellen Diskussionen zu Gefährdung und Schutz der Biodiversität noch einmal deutlich wird. Neue Technologien haben hier in den letzten Jahren zur Popularität beigetragen.
Durch mobile Webanwendungen wird es einfacher, Interessierte zu erreichen, die aus ihrem Alltag heraus aktiv in Forschungsprojekten mitwirken können, was oft durch spielerische Elemente unterstützt wird (siehe Gamification). Per App können die Daten über bei einem Spaziergang gezählte Eichhörnchen, automatisch ergänzt um genaue Orts- und Zeitangaben, direkt an Forschungsprojekte übermittelt werden und die fleißigsten Sucher:innen eine digitale Auszeichnung erhalten.
Digitale Praktiken im Forschungsablauf
Bürger:innenbeteiligung kann in verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses erfolgen: von der Erstellung der Forschungsfragen, über die Datenerhebung, Datenauswertung bis hin zur Ergebnisbewertung. Die einzelnen Schritte stellen ganz unterschiedliche Anforderung an die Teilnehmer:innen. So erfordern etwa Datenerhebung und Datenauswertung einiges Vorwissen.
Mit Blick darauf bieten digitale Technologien die Möglichkeit, eine sehr spezifische, an Kenntnissen und Interessen ausgerichtete Einbindung zu gestalten. So gibt es Projekte, die mit digitalen Hilfsmitteln auf unterschiedliche Forschungsphasen zielen (siehe Tabelle 1).
Phase im Forschungsablauf | Beispielhafte digitale Bürger:innenbeteiligung |
---|---|
Entwicklung der Forschungsfrage | Online Erhebung zu möglichen Forschungsfragen im Themenfeld Traumatologie: https://tell-us.online/de |
Datenerhebung | Apps zur Erfassung von Nachtigall-Gesängen: https://forschungsfallnachtigall.de |
Dateninterpretation | Webanwendungen zur Interpretation historischer Karten Ost- und Südosteuropas: http://geoportost.ios-regensburg.de/ |
Vermittlung von Projekten und Ergebnissen | Plattform zur Vermittlung verschiedener Forschungsergebnisse mit Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern: https://www.buergerschaffenwissen.de/ |
Themenkonjunkturen
Datafizierung und Inklusion
Entscheidend für die Wirkungen von Citizen Science ist, wie Partizipation in der technischen und sozialen Gestaltung der Projekte umgesetzt wird. Werden den Teilnehmer:innen Entscheidungen überlassen oder folgt Beteiligung allein dem Zweck der Verteilung von Arbeit? Leistet die Datenerhebung durch Bürger:innen wirklich einen Beitrag zu Unabhängigkeit und Verlässlichkeit der Wissenschaft oder dient sie eher als partizipatorisches Feigenblatt?
Bürger:innenwissenschaft befindet sich so zwischen zwei Polen: Zum einen bietet sie emanzipatorisches und inklusives Potenzial, wenn die Perspektiven der Wissenschaftler:innen durch jene der Bürger:innen ergänzt werden. Zum anderen fügt sie sich in den gegenwärtigen Trend einer weiteren Technisierung und Datafizierung der Wissensproduktion, welche die Bürger:innen als Datenquellen zur Vermessung der Welt betrachtet (siehe Post Privacy). Wie sich diese beiden Pole miteinander vermischen und welche Auswirkungen dies auf öffentliche Diskurse und die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Wissenschaft haben werden, ist selbst noch eine offene Forschungsfrage.
Folgenabschätzung
Möglichkeiten
- Qualitätssicherung durch größere Öffentlichkeit des Forschungsprozesses
- Innovation und Wissenstransfer in alle gesellschaftlichen Teilbereiche
- Pluralisierung der Forschung
- Beitrag zur Stärkung einer gesamtgesellschaftlich geteilten Wirklichkeit
- Schaffung einer umfassenden und detaillierten Datengrundlage
Wagnisse
- Datengläubigkeit bei der Automatisierung der Wissensproduktion durch Datafizierung der Umwelt und der Bürger:innen
- Geringe Partizipation der Bürger:innen
- Qualitätsverlust durch geringere wissenschaftliche Methodenstringenz
- Einflussnahme auf und gezielte Manipulation von Forschungsprozessen
Handlungsräume
Klare Zielvorgaben formulieren
In Anerkennung der Bandbreite an Gestaltungsformen von Bürger:innenwissenschaft sollten öffentlich geförderte Projekte klare Zielvorgaben hinsichtlich ihrer Wirkungsabsicht und Einbindungsform der Bürger:innen formulieren.
Projekte außerhalb etablierter Praktiken fördern
Ein Großteil der bürger:innenwissenschaftlichen Projekte ist im Kontext der Umwelt- und Biodiversitätsforschung angesiedelt. Um das Potenzial für andere Disziplinen zu erkunden, sollten Projekte außerhalb der etablierten Anwendungsfelder gefördert und evaluiert werden.
Begleitforschung und Evaluation durchführen
Viele Fragen zu Praktiken und Effekten von Citizen Science sind noch ungeklärt. Aufgrund der aktuellen Popularität des Konzeptes sollten Begleitforschung und Evaluation verstärkt durchgeführt werden.
Unterstützungsstrukturen schaffen
Digitale Technologien und Formate sind ein zentrales Element, die Partizipation von Bürger:innen in Forschungsprojekten zu ermöglichen. Oft fehlen Wissenschaftler:innen jedoch digitale Ressourcen und Kompetenz, ihre Forschung digital zu öffnen. Die bereits bestehenden Plattformen könnten um Angebote von Tools und Beratungsleistungen ergänzt werden.