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Vom Gesetz zum Vollzug - und wieder zurück

Vom Gesetz zum Vollzug - und wieder zurück

Digitalpolitisches Dossier #1

Mittwoch, 05. Juni 2019, 18-20 Uhr

Deutscher Bundestag, Jakob-Kaiser-Haus, Raum 1.554
Dorotheenstraße 101,
10117 Berlin

 
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Vortragsfolien

 Vom Gesetz zum Vollzug  Digitalisierungstauglichkeit
 

 

Am 05.06.2019 fand erstmalig das „Digitalpolitische Dossier" im Deutschen Bundestag statt, ein vom Kompetenzzentrum Öffentliche IT (ÖFIT) angebotenes Format für die fokussierte Auseinandersetzung mit Digitaltechnologien, ihren Innovationspotenzialen und ihren Auswirkungen für die Schnittstellen zwischen Staat und Gesellschaft.

Rund 30 Teilnehmer aus Parlament, Ministerien und Kanzleramt, NGOs und Forschungseinrichtungen diskutierten unter dem Themenschwerpunkt „Vom Gesetz zum Vollzug – und wieder zurück" über die Automatisierbarkeit von Verwaltungshandeln – wobei hier explizit die Rechtsprüfung und -anwendung als Kern des Verwaltungshandelns im Zentrum der Vorträge und Diskussionen standen. Nadine Schön und Prof. Peter Parycek steckten knapp, aber umso treffender den Kontext ab: Die Verwaltung befindet sich in der Doppelrolle, die Digitalisierung insgesamt zu treiben und sie für sich selbst umzusetzen – das Ganze mit Schwung und positiver Stimmung, aber durchaus Hemmnissen durch den gesetzlichen Rahmen.

Peter Parycek, Resa Mohabbat Kar und Simon Hunt (ÖFIT) referierten über Voraussetzungen und Facetten der Automatisierbarkeit der Gesetzesanwendung. (siehe Vortragsfolien)

 

Digitalisierungstauglichkeit von Gesetzen und Verständlichkeit des Rechts

Vorteile digitalen bzw. automatisierten Verwaltens liegen auf der Hand: erwartete Ersparnisse, Entlastung der Mitarbeiter von Routinetätigkeiten, mehr Zeit für komplexe und Sonderfälle, Konsistenz von Verwaltungshandeln. Bei den Voraussetzungen der automatisierten Fallberabeitung sind jedoch teilweise noch erhebliche Vorleistungen erforderlich, die sich auf folgende Frage herunterbrechen lassen: Ist der für die Gesetzesanwendung notwendige Verwaltungsprozess medienbruchfrei, also vollständig digital möglich, und liegen alle für die Rechtsprüfung erforderlichen Daten digital verarbeitbar vor? Ein Blick auf die Gesetze, die die Verwaltung vollziehen soll, verdeutlicht verschiedene Hemmnisse und Herausforderungen. Häufig verhindern gesetzliche Vorschriften wie z. B. das Schriftformerfordernis einen durchgängig digitalen und somit (voll)automatisierten Prozess. Darüber hinaus erschweren auf Gesetzesseite vor allem verschiedene Unbestimmtheiten wie beispielsweise unbestimmte („auf absehbare Zeit") oder mehrdeutige Begrifflichkeiten („Einkommen") die Rechtsprüfung und -anwendung – ob nun durch Mensch oder Maschine. Die Vollzugstauglichkeit von Gesetzen muss durch die Verwaltung nicht selten mit hohem Aufwand erst hergestellt werden. Mehrdeutigkeit sollte identifiziert und hinterfragt werden, Unbestimmtheit kann auch sinnvoll sein, um Regelungen auch auf zukünftige Sachverhalte übertragbar zu machen oder in einem dynamischen gesellschaftlichen Umfeld „angemessen" zu halten.

 

Automatisierung gebundener Entscheidungen

Viele gebundene Entscheidungen könnten bereits heute auf der Basis ihrer eindeutigen gesetzlichen Entscheidungsregeln vollautomatisch gefällt werden, vorausgesetzt, Personen könnten eindeutig identifiziert und (oft bereits vorhandene) Registerdaten umfänglich genutzt werden. Dazu ist erforderlich, die notwendigen Daten und Datenschnittstellen bereits beim Gesetzgebungsprozess mitzudenken.

Dabei bedeutet Automatisierung nicht zwangsläufig, Sonder- und Einzelfälle mit abzudecken, bereits durch die Automatisierung der großen Mehrzahl der Normalfälle lässt sich für alle Seiten – Verwaltungs„kunden", Sachbearbeiter und Dienstleister als Erbringer staatlich geförderter Leistungen viel gewinnen.

 

Maschinelles Lernen für unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensspielräume

Ein interessantes Forschungsfeld eröffnet sich bei der Frage der automatisierten Anwendung von Gesetzen, die Unbestimmtheiten wie unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessenspielräume beinhalten: Dies ist unter spezifischen Voraussetzung möglich, z. B. durch die Anwendung von maschinellem Lernen (ML), bei dem Begriffsauslegungen aus bisherigem Entscheidungsverhalten der Verwaltung, aus Durchführungsvorschriften oder etwa Gerichtsentscheidungen maschinell „gelernt" werden. Wesentliche Voraussetzungen hierbei sind das Vorhandensein der entsprechenden Datengrundlage (wie z. B. zurückliegende Rechtsfälle und Verwaltungsentscheidungen) und die rechtliche Begründbarkeit von Einzelfallentscheidungen, die maschinell (durch statistische Verfahren) getroffen wurden.

Beim Einsatz von ML ist (noch) nicht unbedingt die automatisierte Entscheidung, sondern die automatisierte Entscheidungsempfehlung an den Sachbearbeiter die geeignete Wahl. Wird jedoch beim Einsatz von KI-basierten Systemen die Leistung des Sachbearbeiters nur an der Zahl der erledigten Fälle, nicht aber an der Qualität der Bearbeitung oder Wirksamkeit des Verwaltungshandelns gemessen, kann es zum bloßen „Durchwinken" der Empfehlungen kommen.

 

Digitisation-ready legislation: Fallbeispiel Dänemark

Lone Skak-Nørskov (dänische Botschaftsrätin) berichtete über die dänische Digitalisierungsinitiative mit speziellem Fokus auf dem Digitalisierungstauglichkeitscheck von Gesetzen. Die Initiative fußt auf einem breiten politischen Konsens und läuft seit nunmehr rund acht Jahren. Ein wesentlicher Schritt war die Erarbeitung von sieben Prinzipien, an denen Gesetze und Verfahren gemessen werden müssen (siehe Vortragsfolien). An oberster Stelle stehen dabei Einfachheit und Klarheit gesetzlicher Regeln sowie durchgehend digitale Kommunikation, aber auch hier werden Einheitlichkeit von Begriffen und Konzepten sowie Datenwiederverwendung gefordert.

Unterstützt wird die Umsetzung der Initiative durch ein staatliches Digitalisierungssekretariat, das die Ministerien beim Entwurfsprozess von Gesetzen unterstützt, Best Practices erarbeitet und Gesetzentwürfe auf die Einhaltung der Prinzipien prüft.

Generell ist bereits zu beobachten, dass inzwischen von vornherein deutlich leichter verständliche und vollzugstauglichere Gesetzestexte produziert werden und mehr interministerieller Austausch stattfindet. Sie beschrieb auch ein konkretes Beispiel, wie ein Gesetzgebungsverfahren durch den Umstieg auf die Nutzung vorhandener Registerdaten – die gerade in Dänemark sehr zahlreich sind – verbessert werden konnte (siehe Vortragsfolien).

Als Problem wird noch gesehen, dass es keine einfachen Möglichkeiten gibt, die Konformität zwischen Gesetz und digitaler Umsetzung zu prüfen.

 

Die auf die Vorträge folgende Diskussion drehte sich um mehrere der identifizierten „Baustellen":

  • Ist es notwendig, dass die Verfasser des Rechts digitales Know-how besitzen?
    Zumindest sollten Gesetzgebungsteams interdisziplinär ausgestattet sein, damit Rechts-, Informatik- und Vollzugsexpertise in den Prozess einfließen können.

  • Wie viel Ermessen wird überhaupt gebraucht? Wann schafft es Einzelfallgerechtigkeit, wann ist es evtl. selbst Ursache unangemessener Ungleichbehandlung (durch Mensch oder – später – Maschine)?

  • Transparenz muss noch weit vor den eingesetzten „Algorithmen" beginnen – von manchen Verwaltungen werden selbst die eingesetzte Standardsoftware und die digitalen Dienstleister geheim gehalten.

  • Als ein praktikables Beispiel für die Überprüfung automatischer Prozesse (der deutschen Steuerverwaltung) wurde eine Kombination berichtet: Überprüfung zufälliger Entscheidungsstichproben und stete Überprüfung von Entscheidungen mit außergewöhnlichen Eingangswerten.

  • Wie entwickelt sich die öffentliche Infrastruktur als Reaktion auf politische Digitalisierungsentscheidungen?

 

Digitalpolitisches Dossier

Ein Format des Kompetenzzentrum Öffentliche IT

Noch viel zu oft wirkt die Politik in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Getriebene des technologischen Wandels. Um »vor die Welle« zu kommen und effektiv staatlich gestalten zu können, müssen zugleich Zielrichtungen und Detailfragen der Digitalisierung in den Blick genommen werden.

Impuls, Debatte und Dossier

Mit dem »Digitalpolitischen Dossier« bietet das Kompetenzzentrum Öffentliche IT (ÖFIT) ein Format für die fachlich fundierte Auseinandersetzung mit Digitaltechnologien. Informationstechnische Grundlagen werden ebenso betrachtet wie die Auswirkungen und Innovationspotenziale für die vielfältigen Schnittstellen zwischen Staat und Gesellschaft. Mit fokussierten Fachimpulsen liefern wir Entscheidungsträger: innen aus Politik und öffentlicher Verwaltung unabhängiges, fundiertes und anwendungsorientiertes Wissen. Hiermit möchten wir zu einer informierten Debatte beitragen – vor Ort und darüber hinaus. Für jedes »Digitalpolitische Dossier« wird in einer mehrmonatigen Vorbereitungsphase ein Schwerpunktthema entwickelt und aufbereitet. Der Präsentation und Debatte vor Ort folgt eine Nachbereitungsphase: Es entsteht ein Dossier, das im Sinne eines Briefings für Entscheidungsträger:innen das Schwerpunktthema zusammenfassend beschreibt, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse bewertet und Handlungsoptionen aufzeigt.