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Digitale Zwillinge

Digitale Zwillinge

Mär 2023

Mit ein paar Klicks von physischem Objekt zu digitaler Repräsentation: Das geht schon in Bereichen wie der Industrieproduktion, wo digitale Zwillinge (DZ) dabei helfen, Effizienz- und Kostengewinne zu erreichen. In der öffentlichen Verwaltung hingegen ist die Umsetzung des Konzepts noch relativ jung und vorrangig auf räumliche Anwendungen beschränkt, beispielsweise in der Stadtplanung und im Verkehr. Wie könnten mögliche weitere Anwendungen aussehen? Und welche Besonderheiten der öffentlichen Verwaltung gilt es hierbei zu berücksichtigen?

Breite Anwendung in der Industrie

Ein DZ ist die digitale Darstellung eines materiellen oder immateriellen Objektes oder Prozesses aus der realen Welt. DZ ermöglichen einen Austausch aller für den jeweiligen Zweck relevanten Daten und Informationen in Echtzeit zwischen dem physischen Objekt, dem Prozess oder der Person und dem digitalen Gegenstück sowie die Durchführung von Simulationen und Wirkungsmodellierung. DZ fanden in der Weltraumindustrie früh Anwendung und wurden als Begriff, damals im Kontext des Produktlebenszyklus-Managements, im Jahr 2002 vorgestellt. In einigen Industriebranchen wie der Automobilindustrie, der Luftfahrt und dem Maschinenbau haben sich DZ in der vierten industriellen Revolution (siehe Industrie 4.0) fest etabliert. DZ gewinnen weiterhin an Relevanz, nicht zuletzt wegen der durch Verbesserungen in der Sensorik erleichterten lokalen Datenerfassung, und finden zunehmende Anwendung in anderen Bereichen wie im Gesundheitswesen (Stichwort: personalisierte Medizin), in der Logistik und in der Stadtplanung.

Ausprägungen von digitalen Zwillingen

Die für die Erstellung eines DZ benötigten Daten können über Sensoren, Modellierungssoftware oder Laserscanning des Objekts gesammelt werden. Diese können mit Informationen aus weiteren Quellen ergänzt werden, wie bestehenden Geodaten, Klimadaten, Mobilitätsdaten und historischen Daten. Die Daten werden in Echtzeit im Internet der Dinge (siehe IoT) miteinander integriert und vereinheitlicht. Wichtig hierfür ist das Bestehen von standardisierten Schnittstellen.

Es gibt drei Stufen bei der Entwicklung eines DZ, die sich in der Fähigkeit zum Datenaustausch unterscheiden. In der ersten Stufe wird ein sogenanntes „digitales Modell“ erstellt: Dabei werden die Daten zwischen dem physischen und dem digitalen Objekt manuell ausgetauscht, sodass sich Änderungen im Zustand des physischen Objekts nicht direkt im digitalen Gegenstück widerspiegeln, und umgekehrt (wie etwa ein 3D-Modell eines Gebäudes, das seine physischen Eigenschaften aber nicht sein Live-Verhalten repräsentiert). In der zweiten Stufe, die als „digitaler Schatten“ bezeichnet wird, fließen die Daten des physischen Objekts automatisch in das digitale Gegenstück ein, umgekehrt ist dies jedoch noch manuell. Das hat zur Folge, dass jede Veränderung des physischen Objekts in seinem DZ zu sehen ist aber nicht umgekehrt. Die dritte Stufe ist ein vollständiger DZ: Dieser umfasst einen automatischen bidirektionalen Informationsaustausch, wobei Änderungen in einem der beiden Objekte, ob physisch oder digital, direkt zu Änderungen im anderen führen. Das physische Objekt kann auch digital gesteuert werden. Diese bidirektionale Echtzeitverbindung kommt aktuell hauptsächlich bei industriellen Anwendungen vor: Wenn der DZ einer Maschine zum Beispiel eine Verzögerung vorhersagt, wird der reale Produktionsprozess automatisch neu konfiguriert. In anderen Bereichen hingegen, wie etwa der Stadtplanung, ist die Verbindung meist noch unidirektional.

Begriffliche Verortung

 
 

Digitale Zwillinge im raumbezogenen Kontext

DZ spielen nicht nur in der Produktion eine immer größere Rolle, sie sind auch ein Herzstück von Smart Cities. DZ ermöglichen eine Rückkopplung zwischen der physischen Stadt und ihrem digitalen Abbild (siehe Reale Virtualität). Große Städte wie Stuttgart und Leipzig aber auch kleinere Städte wie Herrenberg und Kommunen wie Kirchheim bei München entwickeln DZ, mit denen sie Informationen aus verschiedenen Quellen analysieren sowie Änderungen und Szenarien simulieren können. Solche Informationen sind beispielsweise Echtzeitdaten zu Verkehrsstoßzeiten und Parkplatzbelegung, Sensorwerte zu Wasser- und Luftqualität sowie Grundwasserspiegel, und Daten zu Ressourcenverbrauch und Infrastruktur. Dadurch können die Stadtverwaltungen Erkenntnisse gewinnen und fundierte Entscheidungen treffen, um Prozesse effizienter, kosteneffektiver und nachhaltiger zu gestalten. In Kirchheim werden zum Beispiel Bauanträgen mit einem DZ holistisch bewertet, indem mögliche Auswirkungen auf Lärmemissionen, Verkehrsströme, Biodiversität, die Bevölkerung und andere Faktoren simuliert werden.

Neben den Vorhaben auf kommunaler Ebene arbeitet das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) an einem DZ des gesamten deutschen Staatsgebietes. Ausgangsbasis dafür ist ein einheitliches, flächendeckendes und hochpräzises 3D-Modell des Landes, das beispielsweise durch luftgestütztes Laserscanning entstehen kann. Die 3D-Daten werden dann mit anderen Daten verknüpft. Der vom BKG entwickelte DZ soll Behörden dabei unterstützen, Handlungsalternativen und Zukunftsszenarien durchzuspielen, um Herausforderungen wie den zunehmenden Flächenverbrauch, Energiebedarf und extreme Wetterereignisse anzugehen. In einem Pilotprojekt hat das BKG eine Starkregenhinweiskarte für Nordrhein-Westfalen aus der Zusammenlegung von Bodendaten des Landesumweltministeriums und statistischen Wetterdaten entwickelt. Mit dieser Karte, die auf Open Data beruht, können die Behörden möglichen Schaden schnell erkennen und Strategien für den Notfall im Voraus entwickeln.

Zum digitalen Bürger:inzwilling?

Behörden verfügen über viele Datensätze, die Potenzial für den Einsatz von DZ versprechen zur Optimierung von Vorgängen, Verminderung von Risiken, Einsparung von Kosten und zielgerichtete Investitionen. Verwaltungsorganisationen können DZ der Gemeinde oder Stadt, von Verwaltungsvorgängen oder Bürger:innen entwickeln. Der hauptsächliche Mehrwert von DZ für die öffentliche Verwaltung liegt in der realitätsnahen Wirkungsmodellierung von Maßnahmen und Entscheidungen, bevor sie tatsächlich umgesetzt werden. So können öffentliche Einrichtungen in einem unkritischen Innovationsraum ausprobieren, was im Realbetrieb nicht möglich ist. DZ von Verwaltungsvorgängen können wiederum zur Prozessoptimierung und als Bildungsplattform dienen, um neue Techniken vor ihrem Einsatz in der realen Welt auszuprobieren und Mitarbeiter:innen auszubilden.

DZ ermöglichen die Beteiligung der Bürger:innen an Entscheidungsprozessen: Mit einem offen verfügbaren DZ kann man beispielsweise modellieren, wo Fahrradwege in der Stadt ausgebaut werden sollten, wie sich eine neue Bebauung auf die Umwelt auswirkt oder wie sich die Stadtbewohner:innen fühlen, wenn sie mit verschiedenen Verkehrsmitteln unterwegs sind (dies wurde in Herrenberg simuliert). Durch Berücksichtigung des daraus folgenden Feedbacks von Bürger:innen wird die Qualität von Verwaltungsentscheidungen zusätzlich erhöht.

Eine weitere vorstellbare Anwendungsmöglichkeit besteht in der Erstellung eines DZ für jede:n Bürger:in. Dies könnte zunächst innerhalb einzelner Behörden erfolgen, sodass nur die jeweils relevanten Verwaltungsparameter in den DZ repräsentiert werden. Verwaltungsmitarbeiter:innen hätten dann einen Überblick über vergangene und laufende Verwaltungsprozesse in Echtzeit und könnten prädiktive Analysen über künftige Anträge und Bedürfnisse durchführen, beispielsweise wann Bürger:innen einen neuen Reisepass beantragen könnten. Dies ermöglicht eine fundierte Planung und Ressourcenverteilung. In einem weiteren Schritt könnten zentrale DZ von Bürger:innen erstellt werden, worin ihre Verwaltungsdaten behördenübergreifend vernetzt sind (siehe Once-Only-Prinzip). Zum Beispiel könnte eine Verwaltungsorganisation anhand bestehender Datensätze die Auswirkungen von Rahmenbedingungen zur WBS-Förderung auf das Umzugsverhalten von Bürger:innen modellieren und untersuchen. Dabei stellen allerdings die aktuell bestehenden Datensilos in den Behörden eine Hürde dar.

Spezifika der öffentlichen Verwaltung

Der Einsatz von DZ in der öffentlichen Verwaltung verspricht viele Vorteile, birgt aber auch das Risiko ungewollter gesellschaftlicher Folgen. Die Datensicherheit von Bürger:innen und Mitarbeiter:innen ist zentral: Missbrauch und Manipulation müssen durch Informationssicherheitsmaßnahmen vorgebeugt werden. Wenn zentrale DZ der Bürger:innen entwickelt werden sollen, wäre eine Voraussetzung die freiwillige Einwilligung von Bürger:innen. Der Wunsch, in der Modellierung von DZ nicht berücksichtigt zu werden kann eine Hürde für die Einwilligung sein. Um Vertrauen zu bilden, muss der Datenverwalter Transparenz und Zweckbindung gewährlisten und die Sorgfaltspflicht einhalten.

Insbesondere wenn DZ-Prozesse auf nicht öffentlichen Rechenzentren laufen, stellt dies eine Herausforderung für den Datenschutz dar. Security-by-Design (siehe Security by Design) ist bei der Entwicklung von DZ unerlässlich. Anonyme synthetische Daten-Proxys können Datensätze ergänzen, wenn die realen Daten nicht verfügbar sind. Bereits bestehende Verzerrungen in den Datensätzen, die unter anderem durch ein nicht barrierefreies Design von Schnittstellen oder fehlerhaftes Datenmanagement verursacht werden, könnten dazu führen, dass die Bedürfnisse von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen bei datenbasierten politischen Entscheidungen nicht betrachtet werden. Umgekehrt kann ein guter DZ dabei helfen, solche Ausgrenzungen zu vermeiden, indem er bei der Simulation von Wirkungen einer Maßnahme auf verschiedene Teile der Bevölkerung Probleme bzw. Lücken früh identifiziert.

Der Einsatz von DZ wirft zusätzlich Fragen der Nachhaltigkeit auf. Einerseits werden DZ für die Analyse und Optimierung des Energieverbrauchs, beispielsweise von Gebäuden, verwendet: Hier gibt es Potenzial für Behörden und Ämter, mithilfe von DZ energieeffizienter und nachhaltiger zu werden. Andererseits wird – je nach Anwendung – viel Rechenaufwand für die kontinuierliche Datenerfassung und den Betrieb von DZ ganzer Städte erfordert. Hinzu kommen die Rohstoffe und Produktionsaufwendungen für Geräte, auf denen DZ repräsentiert werden.

Schließlich müssen die konkreten Anwendungen und der Mehrwert von DZ in der öffentlichen Verwaltung eindeutig sein, bevor die entsprechende Technologie eingesetzt wird. Zudem muss ein gesamtgesellschaftlicher und politischer Dialog stattfinden, ob und wie DZ gewünscht sind und welche Möglichkeiten es für die Beteiligung von Bürger:innen gibt.

Themenkonjunkturen

Folgenabschätzung

Möglichkeiten

  • Durchspielen und Auswertung verschiedener Optionen im geschützten Raum
  • Minimierung von Risiken und Fehlern durch prädiktive Analysen
  • Aktive Mitgestaltung von öffentlichen Räumen durch Bürger:innen
  • Optimiertes Personalmanagement und Workflow-Steuerung.

Wagnisse

  • Mangel an Transparenz bei der Datenerfassung stellt für den Datenschutz von Bürger:innen eine Herausforderung dar
  • Umfangreiche technische, personelle und finanzielle Ressourcen werden für die Auswertung der Daten und die digitalen Technologien benötigt
  • Behördenübergreifender Datenaustausch wird durch Mangel an einheitlichen Standards und Schnittstellen verhindert
  • Viel Rechenaufwand und somit Energie werden für den kontinuierlichen Betrieb von DZ benötigt

Handlungsräume

DZ auf bestehenden Datenplattformen aufbauen

DZ können auf Basis von bestehenden Datensätzen und Plattformen entwickelt werden, wie dem Bürgerkonto oder Bundesportal, sowie den gemeinsamen europäischen Datenräumen. In einem inkrementellen Prozess können 3D-Modelle von Städten und Kommunen mit weiteren Daten und Funktionen ergänzt werden, bis ein umfangreicher DZ erreicht wird. Bei jedem Schritt müssen Datenschutz und Transparenz gewährleistet werden.

Datenaustausch durch Standards erleichtern

Die Datenformate und Schnittstellen der Behörden, von kommunaler bis hin zur Bundesebene, sollten standardisiert sein, um den Austausch und die Einspeisung von Daten in DZ zu erleichtern. Dabei sollte man sich vorrangig an etablierten Standards orientieren, wie der „DIN SPEC 91357 – Referenzarchitekturmodell Offene Urbane Plattform“ und der kommenden „DIN SPEC 91607 – DZ für Städte und Kommunen“.

Open Innovation fördern

Durch einen Open-Innovation-Ansatz können DZ in Partnerschaft zwischen Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft weiterentwickelt werden. Vor allem müssen sich Bürger:innen an den Dialog zu Anwendungen von DZ früh beteiligen. Das hilft dabei, den Mehrwert für Verwaltungsmitarbeiter:innen und Bürger:innen im Blick zu halten, sie in Entscheidungsprozesse einzubinden und DZ nutzerzentriert zu gestalten.